img_4937.jpg

Ich bin sieben Jahre alt und besuche eine Freundin. Wir sehen fern. Es läuft irgendein Krimi. Es ist das erste Mal für mich. In dem Film wird eine Frau entführt. Mehrere Männer rennen auf sie zu und überwältigen sie. Die Frau schreit und strampelt. Die Entführer treten ihr wieder und wieder in den Bauch, damit sie aufhört, sich zu wehren. Die Männer verschränken ihr die Arme auf dem Rücken und schleppen sie gebeugt zu einem Transporter.

Ich weiß nicht, warum die Frau entführt wird. Wir haben mittendrin eingeschaltet. Ich kann nicht wegsehen. Ich fühlte mich ohnmächtig. Angst nistet sich in mir ein. Das also ist Gewalt.

Gewalt in Form von Zwang habe ich natürlich schon erlebt. Im Vergleich zu der klischeehaften Krimiszene jedoch nicht massiv körperlich, sondern eher unterschwellig wie jedes Kind. Und zwar immer dann, wenn ich gezwungen werde, etwas zu tun, was meinen Vorstellungen widerspricht.

Doch in dem Moment, in dem ich als siebenjähriges Mädchen sehe, wie diese Männer auf die Frau eintreten, erkenne ich das Böse auf der Welt und weiß, dass es mir nicht mehr von der Seite weichen wird.

Ich weiß noch, wie ich meiner Großmutter später erzähle, welche Angst die Entführungsszene bei mir ausgelöst hat. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass sie die Angst aus mir heraus operiert. Doch sie schafft es nicht. Stattdessen bettet sie mich auf ihrem Sofa, kocht mir Pfefferminztee und schaltet das Vorabendprogramm ein. Wir gucken „Verbotene Liebe“.

Ich gehöre auf einmal nicht mehr dazu. Oder war ich aus ihrer Sicht vielleicht nie eine von ihnen?  Drei meiner besten Freunde sind Jungs. Wir haben die gleichen Vorlieben. Wir bauen Zelte aus trockenem Gestrüpp, spielen dem alten Mann mit dem Luftgewehr Klingelstreiche und schließen Wetten darüber ab, wer von uns das ganze Alphabet rülpsen kann.

Doch in einem Punkt unterscheiden wir uns. Laut meiner Eltern bin ich auf die drei Jungs angewiesen. Meine Eltern sind froh, dass ich als Mädchen nicht allein nach Hause gehen muss. Der hässliche Onkel mit der Schokolade im Handschuhfach ist allgegenwärtig. Der Onkel, der vor allem uns Mädchen in die Falle locken, missbrauchen, zerstückeln und im Wald verscharren will. Trotzdem nehmen wir ihn höchstens so ernst wie die Hexe bei den Gebrüdern Grimm. Ich kann nicht verstehen, wie die Jungs mich beschützen sollen. Beim Armdrücken gewinne ich oft. Und trotzdem soll ich das zu beschützende Mädchen sein? Auf dem Nachhauseweg fühlen sich die Jungs sehr stark und ich sehr schwach.

Dann bekomme ich eine geknallt. Ich bin die letzte im Klassenraum. Da stürmen meine drei männlichen Freunde hinein und ohne jegliche Vorwarnung klatscht mir einer von ihnen eine. Es geht blitzschnell und tut kaum weh. Er hat nicht richtig getroffen. Zu aufgeregt war seine kleine, verschwitzte Hand. Zu unsicher war er, ob er wirklich treffen will oder nicht. Ein Moment zwischen Angriff und Flucht. Doch die Neugier überwiegt. Um mich herum steht nun die kichernde Meute. Jungs mit Streichholzköpfen. Erregt über das Verbotene. Mit triumphierendem Blick. Die Gruppe hat ein Mädchen zum Mädchen gemacht. Zum Nichtmitglied. Ich reibe mir die Wange. Ich weiß nicht, ob ich weinen soll.

Ich weine nicht. Nicht vor meinen Freunden. Vor denen bin ich stark  und mutig. Ich gehöre doch dazu. Zu den Jungs. Meinen Freunden. Den Verrätern. Weinen ist Schwäche. Ich zeige keine. Ich lächele sie weg. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich nach dem Warum gefragt hätte.

Ich hätte zurück hauen müssen. Schlagen, beißen, kratzen und an den Haaren ziehen, bis alle vor Schmerzen schreien.  Doch in meiner Vorstellung damals prügelten sich Mädchen nicht. Mir wäre nur das Petzen geblieben. Doch meine Freunde an den Pranger stellen? Ich tat es nicht. Ich wollte keine Verräterin sein. Wusste, dass dieser Verrat mich zur Außenseiterin gemacht hätte. So taumelte ich irritiert an den kichernden Jungs vorbei und ging an diesem Tag alleine nach Hause.

© Anna Fastabend, 2015