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Langsam wird es hell. Marten sagt, mach´s dir gemütlich. Ich sinke auf den Balkonboden. Durch Risse in der Wolkendecke kommt schales Licht. Marten sucht in der Küche nach Resten. Die feuchte Kälte vom Beton zieht durch meine Strumpfhose. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, ich ziehe meine Beine, so nah es geht, an meinen Bauch und schlage die Arme darum.

Marten kommt mit einer Flasche zurück, die zur Hälfte mit Schnaps gefüllt ist. Auf dem Boden liegt eine bräunlich plumpe Frucht. Birne, sagt Marten, schwenkt die Flasche dicht vor meinen Augen und sagt, keine Schweißnähte am Glas. Ich starre auf den Klumpen in der Flasche und frage, hast du was anderes, und als er den Kopf schüttelt, glaube ich ihm lieber, dass in der Flüssigkeit auch wirklich eine Birne schwimmt. Marten setzt sich mir gegenüber in den Türrahmen, füllt Schnaps in Gläser, gibt mir eins, wir stoßen an. Als unsere Gläser aneinander klirren, suche ich seinen Blick, aber Marten schaut weg und ich sage, auf uns, nur um ihn zu ärgern, und plötzlich sieht er mir in die Augen und ich bereue meine ganze Art und Weise.

Kennst du das Gefühl, fragt er, dass alles dich anschreit, so wie jemand dich mal angeschrien hat, den du wirklich gemocht hast, und es schreit, dass du Vergangenheit bist? Zwischen Martens Augenbrauen hat sich eine steile Falte gebildet. Erst habe ich noch gedacht, hier wird mir alles zu groß und still ohne sie, aber dann hat das mit dem Schreien angefangen, sagt Marten. Gegangen ist nur ihr seifiger Geruch, die Knitterfalten vom Kissen, ihre Lachanfälle, die nicht enden wollten, und ihre Schritte den Hausflur bis zur Wohnung rauf, aber geblieben ist alles andere, und es schreit jetzt von jedem Buch und jedem Becher, vom Sofa und der Bettwäsche, du bist Vergangenheit, egal wie oft ich sie wasche. Darüber darf man nicht nachdenken, sage ich, sonst dreht man durch, sonst dreht man durch, wenn man darüber nachdenkt.

Ich wäre jetzt am liebsten im Wald, sagt Marten, so tief drin, dass ich nie wieder raus finden würde, in einem Wald, wo man mich nicht orten kann, den es gar nicht mehr gibt, und in den Nachrichten würden sie sagen, dass sie nicht verstehen könnten, wie ich das gemacht habe, wie ich den ganzen Suchtrupps und Spürhunden, den Wärmebildkameras am Boden und den Luftaufnahmen aus dem Hubschrauber habe entkommen können, wie ich nicht mehr aufzuspüren bin auf einem Planeten, dessen Oberfläche Millimeter für Millimeter gescannt und kartografiert ist. Und ich sage dir, wie ich es machen würde, ich würde erst das Denken von mir lösen, dann meine Emotionen und dann wäre ich nur noch Energie und würde mich unter die Lichtstrahlen mischen.

Die Wolken verziehen sich langsam. Die Sonne hat sich vom Horizont nach oben verschoben. Sie hängt jetzt genau über Martens Kopf, ich muss mit einer Hand die Augen abschirmen, um Marten noch sehen zu können, und obwohl die Strahlen richtig warm sind, habe ich die Schultern hochgezogen und zittere.

Es wird schon wieder dunkel, als wir aufwachen. Ich brauche einen Moment, um mich zu orientieren, um zu verstehen, wie ich in das Bett und in das Zimmer gekommen bin. Ich taste unter der Decke und weiß erst gar nicht, nach was ich eigentlich suche und warum meine Handfläche sich über das Laken bewegt, bis sie auf einen Widerstand trifft, auf einen Körper, einen Rücken, auf Marten. Ich liege zwischen Marten und der Wand. Ich bin nackt unter einer schweren Decke, einer Decke aus Daunen, so einer Decke, unter der ich sonst nur liege, wenn ich meine Großmutter besuche. Sie riecht ein bisschen verbraucht. Das Zimmer ist fremd, sehr viereckig und von der Decke hängt so eine Omalampe und dann ist da noch ein Waschbecken im Zimmer, wie in einem Krankenhaus. Marten scheint noch zu schlafen, jedenfalls bewegt er sich nicht.

Ich lehne an der Arbeitsplatte und trinke Leitungswasser, es schmeckt ein bisschen, wie wenn man sich an einem Blatt Papier den Finger geschnitten hat und dann am Finger saugt, damit es aufhört zu bluten. Als ich mich zur Tür drehe, zucke ich zusammen. Marten steht im Rahmen und grinst. Ich habe ihn nicht kommen hören, so leise war er. Ich zeige dir, wie man Sauerkraut macht, sagt er, ich zucke mit den Schultern. Er sagt, ich ernähre mich jetzt gesünder, seitdem hat sich alles verändert, seitdem komme ich einfach besser klar. Ich koche wie früher, wie unsere Urahnen auf der ganzen Welt, wie die Indianer und die Schweizer in den Dörfern ohne Anbindung zur Zivilisation. Marten löst sich aus dem Türrahmen. Erst jetzt sehe ich, dass er die ganze Zeit über einen Baseballschläger in der Hand gehalten hat. Mit dem Kopf des Schlägers klopft er immer wieder in seine Handfläche, dann umfasst er den Griff mit beiden Händen und zieht ihn plötzlich durch die Luft, so als wenn ich ihm einen Ball zugeworfen hätte und davon zucke ich wieder kurz zusammen und ärgere mich im nächsten Moment, weil es dazu keinen Grund gibt.

Man muss Sauerkraut schlagen, bis es aufbricht, sagt Marten und nimmt einen von den unzähligen Gefrierbeuteln aus der Schublade, stülpt ihn über den polierten Kopf des Schlägers und befestigt ihn mit einem Gummiband. Marten steht an der Arbeitsplatte und schneidet Weißkohl in schmale Streifen. Ich sitze auf einem Stuhl, auf den Fliesen ein Blechtopf, den ich zwischen meine nackten Füße geklemmt habe. Im Topf sind Molke, Kümmel, Salz und Kohl. Ich stampfe mit dem Baseballschläger darauf herum, der  Schlag ist ganz gleichmäßig zu hören, die Kohlstreifen quietschen. Es fühlt sich an, als ob ich einem Metronom folge, das schon immer in mir geschlagen hat.

Ich beobachte Marten, wie er konzentriert ein großes Einweckglas ausspült und muss daran denken, wie er vorhin eine Flüssigkeit aus einer kleinen Glasflasche gezogen und sie sich in den Mund gespritzt hat. Ich habe ihn gefragt, was das sei, und er hat gesagt, Lebertran. Und als ich ihn gefragt habe, ob so was teuer sei, hat er gesagt, egal, das sei für seinen Körper. Marten sagt, wasch dir die Hände, und danach schichte ich das Sauerkraut mit meinen Händen in das Glas und er drückt es mit dem Schläger fest zusammen, bis der Saft über dem Kraut liegt, und verschließt das Glas mit einem roten Gummiband. Er stellt es auf den Kühlschrank und sagt, damit ich mich darüber freuen kann, wenn ich in die Küche komme, und während er das sagt, sieht er ein bisschen zu zufrieden aus, dafür, dass er bloß Sauerkraut gemacht hat.

Marten zieht mich näher zu sich heran, ich schiebe seine Locken weg und rieche an der Stelle hinterm Ohr, von der ich gehört habe, dass jeder dort am meisten nach sich selbst riecht, und auf einmal muss ich daran denken, wie meine Freundinnen und ich mal in so einem Chatraum gewesen sind und uns mit einem im Wald verabredet haben, wie wir eine Flasche Erdbeersekt gekauft, uns hinter ein paar Bäumen versteckt und den Mann beobachtet haben, der auf der Lichtung gestanden hat, mit einer Körperhaltung, als ob er das Hoffen noch nicht aufgegeben hätte. Er hat bestimmt eine Stunde gewartet und in der einen Stunde ist er immer kleiner geworden, während wir die Flasche rumgereicht und unsere Hände gegen den Mund gepresst haben, damit wir nicht laut loslachen müssen und dabei stieg uns die Kohlensäure in die Nase und brannte und wir wurden immer größer hinter den Bäumen im Wald. Und ich denke daran, dass es vielleicht Martens Wald war und daran, dass der Mann plötzlich verschwunden war, wie vom Erdboden verschluckt. Ich rieche an Martens Hals, und als ich noch mal an ihm rieche, merke ich, dass er wie jedermann riecht.

© Anna Fastabend, 2012, veröffentlicht in Landpartie 12, Edition Pächterhaus