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Am Anfang war ich Einzelkind. Schon mit einem Jahr war mir dieser privilegierte Zustand bewusst. Vor meiner Fangemeinde aus Eltern, Großeltern und den Mandanten meines Vaters übte ich die ganz großen Konversationen.

Eines Tages kamen die Zwillinge. Mutter hatte sie schon Monate vorher angekündigt. An einem Montag war ihr Bauch wieder flach und in meiner Wiege strampelten zwei Puppen. Als ich das Mäxchen zum Spielen auf den Balkon legte, wurde meine Mutter laut. Sie beruhigte sich erst, als der Vater sagte, Anna kommt in die Abstellkammer. Ich musste umziehen. In meinem neuen Zimmer stand ein Besen, ein Kinderkassettenrekorder mit Mikrofon und ein Puppenpärchen aus Plastik.

Ich schnitt ihnen das blonde Kunsthaar ab, damit sie genauso aussahen wie die Puppen meiner Mutter. Meine waren sehr still. Ich nahm kleine Fragen auf und immer, wenn ich zum Essen gerufen wurde, legte ich den Puppen das Mikrofon um den Hals. Geantwortet haben sie nie. Nicht mal, als ich gefragt habe, warum ein Windbeutel wie die Frau W. nur so doof sein kann.

Frau W. war kinderlos. Weil sie sich ausschließlich von Schnapspralinen ernährte, reichte das Arbeitslosengeld ihres Mannes nicht für zwei. Also lieh sie mich morgens aus. Jeder Tag war gleich. Sie setze mich auf das rote Kunstledersofa neben ihren Mann. Bugs Bunny lief schon. Vom Video. Wenn er gute Laune hatte, zeigte er mir, wie man mit Multivitaminsaft in Senfgläsern anstößt.

Einmal gingen wir im Wald spazieren. Frau W. wurde von einer Frau verzückt gefragt, ob ich denn ihr kleines Mädchen sei. Frau W. antwortete, das sieht man doch, nicht wahr? Bevor ich schreien konnte, drückte sie mir eine halbe Packung Weingummis in den Mund.

Erst versauten mir die Zwillinge das Leben, dann machte meine Mutter mich zum Drilling. Dabei waren es zwei Jahre, die mich von den Möhrenbrei verschmierten Puppenköpfen trennten. Mutter uniformierte uns: Wildlederhosen, Spitzenkragen Miniaturjanker mit Hornknöpfen. So marschierten wir durch den Herbst und fütterten Wildschweine mit Hartweizen Spaghetti.

Meine erste Freundin war wirklich Einzelkind. Sie lebte mit ihren Eltern zwischen handbemalten Porzellanpuppen, Fernsehdeckchen, Hamsterkäfigen und Jogurtmandarinentorten. Jeder Wunsch wurde dreifach erfüllt. Dennoch war sie sehr still. Sie aß selten und lachte nie. Ich lachte umso mehr, wenn ich bei ihr übernachten durfte. Ich stopfte Sahneschnitten in mich hinein und brach allen rosa Ponys das rechte Hinterbein ab. Ich aß auch ungefragt ihren Nachtisch. Das mache ich auch heute noch. Sie weiß, dass ich immer noch das bessere Einzelkind mimen kann. Denn auch in unserer Freundschaft übe ich die ganz große Konversation.

© Anna Fastabend, 2011